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Einige philosophische Gedanken zu der deutsch-polnischen Solarbootfahrt von Berlin nach Szczecin

 

Von Marek żmiejewski

 

Spätestens nach dem Zusammenbruch des Kommunismus kommt die längst prophezeite Krise des westlichen Denkens zum Vorschein. Wenn vor dieser Zeit relativ einfach nachzuweisen war, das jeglicher totalitäre Gebrauch der freiheitlich-demokratischen Begrifflichkeit zu deren Missbrauch und Verunstaltung führte, dann triumphierte danach die neoliberale Weltanschauung mit ihrer global siegreichen These von der Befreiung der Menschheit von jeglicher Verpflichtung aus dieser freiheitsdemokratischen Tradition. Dadurch wurden umkämpfte Bereiche der Politik, der Geschichte, der Philosophie und der Wirklichkeit dem freien Verfall oder der freien Marktwirtschaft preisgegeben. Über den Sinn und den Wert der brachgelegten Bereiche der Wirklichkeit entscheiden Experten: Wissenschaftler, Politiker und Informatiker, die objektiv forschend, immer wieder in ihrer Neusprache dasselbe feststellen, dass die Welt und der Mensch der technisch-ökonomischen Verfügbarkeit ausgeliefert ist. Im Geiste dieses einseitigen Expertenwissens werden Bildung, Politik, Gesundheitswesen und Sprache „reformiert“- mit dem Ergebnis, dass die unüberwindbare Kluft zwischen Generationen, zwischen dem veralteten und modernen Wissen, zwischen der metaphysischen und wissenschaftlichen Sprache, zwischen den neugebildeten Experten und der „rohen Masse“ der Bevölkerung sich ausbreitet. „Jene Scheidung ist daher wahrhaft nur da vorhanden, wo die Bildung irre geleitet hat, oder die Natur zur Rohheit hinabgesunken ist.“[Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues. (vgl. Humboldt-W Bd. 3, S. 269)

 

Da die Philosophie ursprünglich zu denken hat, versucht unsere philosophische Reise die Öffentlichkeit auf diese gefährliche Scheidung aufmerksam zu machen, d.h. die Bildung aus dem Irrweg zu führen und die Natur vor Rohheit zu retten. Sie führt nicht in die Weite der planbaren Zukunft, sondern in die Tiefe der Sprache und der europäischen Kultur.

 

In der Mitte der eigenwüchsigen Natur gründete der Mensch eigene Wohnstädte – Polis. Zur Polisgründung kam es dort, wo das Spiel der Elemente es erlaubt hatte. Dort, wo die Fuß-, Pferde- und Wasserwege sich kreuzten. Der Mensch, Tier und Pflanze brauchten die Gunst der Elemente, um das Vorhandene zu nutzen und das Fehlende herbeizuholen. Für diese Gunst der Elemente spendeten die Menschen den Dank, dessen Verlauf und Sinn stifteten die Mythen. Zu dem Dank für das Gedeihen des Lebens gesellte sich immer die Furcht vor seiner Zerstörung. Denn oft vergaß der Mensch, dass nur innerhalb der Polis, innerhalb einer menschlichen Gründung seine selbst gegebenen Gesetze galten, draußen dagegen, wüteten die mächtigen und unberechenbaren Elemente, vor denen die Häuser und Mauern und alle schlauen technischen Einrichtungen nicht immer Schutz gewährten. Diese Vergesslichkeit führte direkt zum Übermut der Menschen, die meinten, die Welt und sich selbst erschaffen zu haben. So übermütig und so überheblich wie sie sind, planen sie ihre Zukunft, indem sie ihre beschränkte Denkperspektive als Maßstab für das Ganze setzen. Dabei berufen sie sich auf die Nachhaltigkeit, als ob sie die Bedingungen der Entstehung und Erhaltung des Lebens im Griff hätten. Dass das Leben sich erneuert, liegt jedoch nicht im Verdienst der Menschen. Im Gegenteil, es ist die unergründete Voraussetzung für alles menschliche Handeln und Gestalten in der Welt, das solange dauert, wie die Elemente (Wasser, Luft, Feuer, Erde) uns ihre Gunst gewähren. Sogar der auf seine technische Perspektive beschränkte Mensch merkt, dass die Sonne sich verfinstert, dass das Feuer erlöscht, die Erde keine Erträge bringt, dass die Luft erstickt und das Wasser versiegt, – dass der Mensch die lebenspendende Kraft verbraucht, statt sie achtsam zu nutzen. Die nur verbrauchende, die nur konsumierende Gesellschaft bildet das Gegenteil zu der Kultur, die das Hegen und Pflegen des Höchsten bedeutet. Für jede, auch für die primitivste Gesellschaft, erscheint die technische Zivilisation in dieser Hinsicht als die Barbarei schlechthin.

 

Jede mythische Gesellschaft verstand die Geschichte als ständige Erneuerung des Gründungsmythos. Das Wirken des Alles stiftenden Anfangs bestimmte den Ablauf der Generationen bis in die Gegenwart.

 

„Der Anfang der Geschichte ist nicht das Vergangene und wie der Historismus uns belehrt, das Veraltete, sondern das Wesentliche, das am Anfang das Kommende schon voraus entschieden hat. Im Wesen des Anfangs liegt das Zukünftige als Entfaltung dieses Wesens. Wir gelangen zu ihm nur unter der Bedingung, dass wir selbst anfänglich und wesenhaft denken.“ Heidegger.

 

Für uns gehört der Anfang unserer Geschichte, unseres Denkens zu dem längst Veralteten und Überwundenen. Gegenüber der Urknall- und Relativitätstheorie klingt die Erklärung des Ursprungs der Welt durch die Elemente lächerlich. Außer Acht bleibt dabei, dass die modernen Wissenschaften, ihrem eigenen Anspruch gemäß, die vorhandene Wirklichkeit nur beschreiben und erklären sollen, statt, wie die Metaphysik, sie zu konstruieren. Vorhanden ist jedoch die durch die Elemente hervorgebrachte Wirklichkeit mit ihrem Reichtum an Phänomenen. Ohne sie bleiben alle Erklärungstheorien inhalts- und grundlos.

 

Welche Wirklichkeit beschreiben die Wissenschaften, wenn sie bei einem unbestimmten Gegenstand der Untersuchung mit einem „X“ beginnen, dessen Inhalt gänzlich aus Hypothese und Methode der Untersuchung besteht? Ein Mensch auf einer Waage wird zu einem Gewicht, genauso wie ein Hund oder ein Stein. Profit erzielen lässt sich aus dem Verkauf von Obst, Menschen oder Waffen. In einer Welt von Gewichten, Profiten, Quanten, Zahlen, Wachstumsdaten verschwindet das Naturhafte, das Elementare, sogar das Politische. Wenn alles seinen Sinn und Wert nur der Erklärungshypothese verdankt, dann bestimmt sich aus ihr unsere Haltung der Welt gegenüber. Nicht die Welt bestimmt die Weltanschauung, sondern die Anschauung. An sich bleibt die Welt wert- und inhaltslos.

 

Eine wert- und inhaltslose Welt überlagert unsere Anschauung. Überall sehen wir nur Stoffe, Atome, Moleküle, Gene, Energievorräte, Formeln und Quanten, die unter unsrer eigenen und aller Dinge Haut wühlen, sich verbinden und trennen und dadurch, nebenbei - ganz zufällig, unsere Welt erschaffen. Viel klüger, ausgewogener, logischer beantworten die Frage nach dem Sinn und Ursprung der Welt die ersten Philosophen, weil sie, durch die Berufung auf das Elementare das Ur-Wissen des Mythos nicht beseitigen, sondern aufklären, und nicht das Nacherzählen, sondern das Nachdenken den Menschen beibringen. Logischer als die modernen Hypothesen ist der Satz der Vorsokratiker, dass das Spiel der Elemente der Ursprung der Welt war, nach Nietzsche aus drei Gründen: „Ja, und aus drei Gründen: erstens weil der Satz etwas vom Ursprung der Dinge aussagt; zweitens weil er dies ohne Bild und Fabelei tut; und endlich drittens, weil in ihm, wenngleich nur im Zustande der Verpuppung, der Gedanke enthalten ist »alles ist eins«. [Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen* (vgl. Nietzsche- W Bd. 3, S. 349.

 

»Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden gemäß der Ordnung der Zeit.«Anaximander aus Milet,

Die Gegensätze verdrängen sich gegenseitig. Jede Einseitigkeit ruft ihr Gegenteil hervor. Einseitige Betrachtung ist dem Wesen der Sache nicht gerecht. Die Gerechtigkeit übt Rache an der Einseitigkeit, indem sie unerwartet, allen Berechnungen zum Trotz, das Gegenteil hervorruft. Ausschließlich unter ökonomischer Hinsicht betrachteter Wald trocknet aus. Wird man seinem naturhaften Wesen nicht gerecht, betrachtet man ihn nur als Sammlung von nützlichen Eigenschaften, dann verwandelt man ihn zur Wüste. Ähnlichen Bedrohungen unterstehen: Wasser (Flüsse, Meere, Seen), Luft (Winde, Brisen, Luftströme), Erde (Felder, Wiesen, Wälder), Feuer (Jahreszeiten, Naturereignisse, Energien). Sie alle verlieren, gemäß der Ordnung der Zeit, ihre sich erneuernde und Leben und Kultur ermöglichende Kraft.

 

Dass wir, gänzlich durch Technik und Ökonomie Verblendeten, noch die Erinnerung an diese Kraft behalten haben, verdanken wir unseren Sprachen. „Alles, was Jahrhunderte hindurch auf ein Volk einwirkt, findet in seiner vaterländischen Sprache, die ja selbst dadurch mit gebildet ist, freiwillig erwidernde Begegnung.“ … „Die Sprachen trennen allerdings die Nationen, aber nur um sie auf eine tiefere und schönere Weise wieder inniger zu verbinden; sie gleichen darin den Meeren, die, anfangs furchtsam an den Küsten umschifft, die Länder verbindenden Straßen geworden sind.“ Sie verwahren noch, obwohl nur in der Form einer Ahnung, eine gemeinsame Danksagung an den Ursprung des Lebens sowohl des einzelnen Menschen als auch der Nation. „ In Allem, was die menschliche Brust bewegt, namentlich aber in der Sprache, liegt nicht nur ein Streben nach Einheit und Allheit, sondern auch eine Ahnung, ja eine innere Überzeugung, dass das Menschengeschlecht, trotz aller Trennung, aller Verschiedenheit, dennoch in seinem Urwesen und seiner letzten Bestimmung unzertrennlich und eins ist.“[Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues. (vgl. Humboldt-W Bd. 3, S. 158-160)

 

Um die Verdeutlichung dieser dankbaren Erinnerung an den Ursprung geht es uns bei der deutsch-polnischen Solarbootfahrt von Berlin nach Stettin. Dieselben Flusswege, die seit dem Mittelalter die Kulturlandschaften erst ermöglichten, dann verbanden, die jedoch in den letzten Jahrzehnten der politisch-wissenschaftlichen Rücksichtslosigkeit zu Grenzzäunen umfunktioniert wurden, sollen unsre Achtung für ihre Leben und Kultur schaffende Bedeutung wiedererlangen. Sie verbinden doch bis jetzt das, was sie erst ermöglichten. Die Nachhaltigkeit, heute ein Verlegenheits- und Modebegriff, besagt nur so viel, dass wir begrenzt die Gaben der Natur rauben und verbrauchen dürfen, nämlich nur so weit, dass die folgende Generation noch für unser Alter sorgen kann. Im wahren Sinne fördert der Begriff der Nachhaltigkeit die Bedingungen der Erneuerung der Natur und des Menschen, die Gunst des Spiels der Elemente, zu bewahren.

 

Unser heutiger Sprachgebrauch assoziiert die Flüsse Oder, Bug und Niemen mit der Grenze, mit einer Kluft und Trennung Europas in die feindlichen Blöcke, aber die Sprache verwahrt noch das Gedächtnis ihrer Ur-Bedeutung für die Landschaft, Menschen und Ökonomie, vorausgesetzt, dass man ursprünglich spricht und denkt. So soll unsere Reise zum Ursprung, zum Elementaren, zu Lebenspendendem führen, ihnen zur Ehre. Sie vergegenwärtigt das Vergessene und macht den Ursprung, der bis heute wirkt sichtbar. Für die großen Dichter wie Hölderlin oder Mickiewicz waren die Flüsse Rhein oder Niemen Halbgötter, die ihre Heimatlandschaften entstehen ließen. Diese schöpferische Kraft soll die Visionen der Zukunft für unsere Wohnstätte leiten und dafür sorgen, dass auch die nachfolgenden Generationen an der Gunst der Elemente Anteil haben. Stattdessen führen wir globale Kämpfe um rücksichtlose, für uns vorteilhafte Nutzung der irgendwo noch vorhandenen Vorräte an Wasser, Luft, Energie und Erde. Die kurzsichtige Profitmaximierung zwingt uns zur ruhelosen Mobilität: diese noch vorhandenen Vorräte auszunutzen und die verwüsteten Landschaften zu verlassen. In den öffentlichen Debatten in beiden Ländern fehlen philosophische Argumente gänzlich, ob es sich, wie in Polen um den Bau des ersten Atomkraftwerks, oder wie in Deutschland um die Bildung und um die Schaffung von Arbeitsplätzen handelt.

 

Ein Solarboot fährt geräuschlos, umweltschonend, verbindet beide Ufer und Kulturen, erinnert an die Kulturlandschaften der Brandenburger, Greifen, der Großpolen, lässt Zeit zum Nachdenken und Diskutieren. Paradoxerweise veranschaulicht die Reise, dass die Phasen des positivistischen Dreistadiengesetzes: die mythisch-religiöse, metaphysische und wissenschaftliche, sich nicht gegenseitig verdrängen, nicht aufeinander folgen, sondern in der Wahrheit immer zugleich vorhanden sind.